Kapitel 19
Der Ankereffekt beschreibt das Phänomen, dass Menschen sich bei ihren Urteilen und Entscheidungen stark von Zahlenwerten beeinflussen lassen, ohne dass ihnen dieser Einfluss bewusst wäre. Hierbei bildet ein entsprechender Zahlenwert einen unbewussten Referenzwert („Anker“), an dem sich dann der weitere Urteils- und Entscheidungsprozess orientiert, wodurch es zu einer systematischen Verzerrung in Richtung des Ankers kommt. Der Ankereffekt arbeitet damit wie der physische Anker aus der Schifffahrt, welcher einmal ausgeworfen dafür sorgt, dass sich das Schiff nur noch minimal um den Ankerplatz herumbewegen kann (daher der Name „Ankereffekt“).
Bei den Beeinflussungstechniken nimmt der Ankereffekt eine besondere Stellung ein (manche bezeichnen ihn sogar als „Superstar“), da sich dessen Wirkung selbst dann kaum reduziert, wenn man explizit davor warnt oder hohe monetäre Anreize für präzise Urteile anbietet. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich bei der jeweiligen Person um einen Laien oder Experten handelt: Beide unterliegen gleichermaßen der systematischen Verzerrung, die der Ankereffekt hervorruft.
Ein bekanntes Experiment zum Ankereffekt stammt von Daniel Kahneman und Amos Tversky, bei dem Besucher eines Exploratoriums gefragt wurden, wie viel sie zur Rettung von Seevögeln bei einer Ölpest spenden würden. Wurde die Frage ohne einen Anker gestellt, betrug die durchschnittliche Spendenbereitschaft 64 Dollar. Baute man dagegen in die Frage einen Anker ein, indem man die Besucher fragte, ob sie bereit wären, 5 Dollar zu spenden (Ankerzahl: 5), reduzierte sich die durchschnittliche Spendenhöhe auf nur noch 20 Dollar. Wurde dagegen ein hoher Anker in die Frage eingebaut, indem gefragt wurde, ob die Besucher bereit wären, 400 Dollar zu spenden (Ankerzahl: 400), stieg die Spendenbereitschaft auf durchschnittlich 143 Dollar.
In einem anderen Experiment von Kahneman und Tversky sollten Personen ein Glücksrad mit einem Zahlenfeld von 1 bis 100 drehen und danach schätzen, wie viel Prozent aller afrikanischen Staaten Mitglied in den Vereinten Nationen sind. Hierzu verwendeten die Forscher ein Glücksrad, welches so eingestellt war, dass dieses bei jedem Dreh entweder bei 10 oder bei 65 stehen blieb. Auch hier konnte ein deutlicher Ankereffekt nachgewiesen werden. Personen, die beim Glücksrad eine 10 drehten, schätzten daraufhin durchschnittlich nur 25 Prozent aller afrikanischen Staaten als UNO-Mitglied ein, während Personen, bei denen das Glücksrad bei 65 stehen blieb, durchschnittlich 45 Prozent schätzten.
Wenn die Rede vom Ankereffekt ist, dann ist in der Regel der unbewusste Anker gemeint, zu dem die beiden oben genannten Beispiele gehören. Der unbewusste Anker arbeitet über den Mechanismus des Primings, bei dem der gesetzte Anker unbewusst Assoziationen aktiviert, welche wiederum die nachfolgende Urteils- und Entscheidungsfindung stark beeinflussen. Es gibt aber auch noch den bewussten Anker, bei dem es um eine Heuristik handelt (Anpassungsheuristik). Diese wird dann genutzt, wenn wir für ein Urteil oder eine Entscheidung die Antwort nicht kennen, wir jedoch einen Anhaltspunkt haben und diesen bewusst als Anker für unsere Schätzung nutzen. Wenn wir beispielsweise nach dem Siedepunkt von Alkohol gefragt werden und wir diesen nicht wissen, können wir den uns bekannten Siedepunkt von Wasser (100 Grad Celsius) als Anhaltspunkt (Anker) nutzen und von diesem ausgehend unsere Schätzung abgeben (der Siedepunkt von Alkohol beträgt 78 Grad Celsius).
Im Alltag begegnet uns der Ankereffekt überall dort, wo wir für unsere Urteile oder Entscheidungen auf Zahlenwerte zurückgreifen, was insbesondere bei Verhandlungen oder bei der Feststellung eines Wertes einer Sache der Fall ist. Wie wir bereits wissen, beeinflusst der zuerst wahrgenommene Zahlenwert als Anker maßgeblich den Urteils- und Entscheidungsprozess. Bemerkenswerterweise spielt es hierbei keine Rolle, ob dieser Zahlenwert für den Sachverhalt überhaupt relevant ist. So konnten die Forscher Clayton R. Critcher und Thomas Gilovich beispielsweise nachweisen, dass bereits eine Zahl im Unternehmensnamen einen Ankereffekt auslöst. Hierzu gaben die Forscher einem Restaurant einmal den Namen „Studio 97“ und ein anderes Mal den Namen „Studio 17“. Bei der Auswertung der Studie zeigte sich dann, dass die Gäste beim Namen „Studio 97“ im Durchschnitt 8 Dollar mehr ausgaben, als wenn es „Studio 17“ hieß. In einer anderen Studie konnte dagegen aufgezeigt werden, dass Lehrer und Professoren sich bei ihrer Notenvergabe deutlich von den vergangenen und vorangegangenen Noten beeinflussen lassen und dadurch unbewusst von einem objektiven Bewertungsmaßstab abweichen.
Wie wir sehen, kann der Ankereffekt je nachdem, in welcher Position wir uns befinden, ein Fluch oder ein Segen sein. Wir können diesen selbst im Alltag an diversen Stellen einsetzen, jedoch umgekehrt uns auch unbewusst von einem Anker beeinflussen lassen. Denn damit unser Gehirn Angebote bewerten und Entscheidungen treffen kann, benötigt es Vergleichswerte. Sind hierfür keine präzisen Erfahrungs- oder Referenzwerte vorhanden, greift unser Gehirn zur Not auch auf aus der Luft gegriffene Zahlen zurück, an dem es sich dann orientiert. Erfahrende Verkäufer und Verhandler versuchen deswegen frühzeitig einen für sie vorteilhaften Anker zu setzen, um dadurch die Richtung sowie den Rahmen der Verhandlung vorzugeben. Einen ähnlichen Weg gehen auch viele Hotels, die auf ihrer Buchungsseite oder vor Ort zunächst die Preise für die teuersten Zimmer nennen. Sie setzen damit zunächst einen hohen Anker, durch den dann im Vergleich die Preise der restlichen Zimmer im Anschluss erheblich attraktiver erscheinen (Kontrasteffekt). Auf die gleiche Weise steigern auch erfahrene Gastronomen ihren Umsatz, indem sie in ihren Speisekarten zunächst die teuersten Gerichte auflisten. Auch Ladengeschäfte und Online-Shops beschreiten diesen Weg, indem sie auf ihre Preisschilder gerne den (überteuerten) UVP-Preis der Hersteller drucken, damit im Vergleich dazu der Ladenpreis günstiger wirkt. Aus dem gleichen Grund werden bei Preisreduktionen die alten (durchgestrichenen) Preise weiterhin gutsichbar neben den neuen, reduzierten Preisen angebracht.
Selbst vor Justitia macht der Ankereffekt keinen Halt. In Studien konnte nachgewiesen werden, dass scheinbar beiläufige Bemerkungen von Anwälten über lächerlich geringe Schadenersatzsummen dazu führten, dass diese Beträge von den Richtern als Anker für ihre Entscheidung genutzt wurden. In anderen Untersuchungen konnte dagegen belegt werden, dass gesetzliche Höchstgrenzen für Schadenersatzprozesse ebenfalls als Anker wirken und dazu führen, dass Klägern eher Summen zugesprochen werden, die sich an dieser Höchstgrenze orientieren. Eine besonders verstörende Wirkung von (zufälligen) Ankern konnte dagegen ein Team deutscher Sozialpsychologen bei deutschen Richtern aufzeigen. Die Richter, welche eine durchschnittliche Berufserfahrung von mehr als fünfzehn Jahren besaßen, sollten über eine Verurteilung einer Ladendiebin entscheiden. Nachdem die Richter die Beschreibung der Frau und des Falls gelesen hatten, warfen die Richter zwei Würfel, welche jedoch gezinkt waren, sodass jeder Wurf entweder zu einer drei oder einer neun führte. Anschließend gaben die Richter das Strafmaß an, zu der sie die Ladendiebin verurteilen würden. Dabei zeigte sich, dass die Richter, die eine drei gewürfelt hatten, die Ladendiebin zu durchschnittlich fünf Monaten Freiheitsstrafe verurteilten, während diejenigen, die eine neun gewürfelt hatten, eine Freiheitsstrafe von acht Monaten verhängten. Obwohl die Fälle identisch waren, führte der Ankereffekt zu einem verstörenden Unterschied von 60 Prozent in der Dauer der Haftstrafe.
Doch bedeutet dies, dass man in der Praxis einen möglichst hohen Anker setzten sollte, um bestmögliche Ergebnisse zu erzielen? Die Erkenntnisse der Forschung zeigen, dass man es jedenfalls nicht übertreiben sollte. So konnte beobachtet werden, dass unplausibel hohe Anker genau das Gegenteil bewirken können, indem sie nicht zu einem hohen, sondern zu einem niedrigen Orientierungswert führen. Die Forscher erklären diesen Umstand, dass wir bei unplausiblen hohen Ankern automatisch nach Gegenargumenten suchen und deswegen den unplausiblen Anker größtenteils ignorieren.
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Patrick Michalowski berät kleinere und mittelständische Unternehmen bei der psychologischen Optimierung ihrer Marketingaktivitäten. Er hat erfolgreich mehrere Studiengänge im Bereich Wirtschaft, Medien und Psychologie absolviert und ist darüber hinaus zertifizierter Referent für psychologische Kommunikationsprozesse (PFH)
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