Kapitel 23
Als Reaktanz wird in der Psychologie die Motivation bezeichnet, bedrohte, eingeengte oder bereits verlorene Handlungsfreiheiten wiederherzustellen. Dem Begriff liegt die Reaktanztheorie zugrunde, nach der Menschen motiviert sind, ihre Freiheiten zu erhalten, die sie in bestimmten Situationen und Lebensbereichen besitzen. Wird eine individuelle Freiheit eines Menschen eingeschränkt, führt dies zu einem inneren Widerstand, der darauf ausgerichtet ist, jene Freiheit wiederzugewinnen. Typischerweise tritt Reaktanz bei Verboten, bei knappen Ressourcen oder bei durchschaubaren Beeinflussungsversuchen auf.
Wird die Freiheit bedroht oder ist diese verlorengegangen, beispielsweise durch eine Drohung, ein Verbot, durch Zensur oder knappe Ressourcen, dann löst dies Reaktanz aus, infolgedessen es zu einer (deutlichen) Aufwertung der betroffenen Freiheit kommt. Diese wird nun als besonders wichtig und wertvoll erlebt, selbst wenn diese einem zuvor unwichtig war oder wenn man nie von ihr Gebrauch gemacht hat. Zusätzlich kann es zu Wut und Verärgerung kommen, welche sich meistens gegen die Quelle der Freiheitseinschränkung richtet.
Damit Reaktanz überhaupt auftreten kann, müssen zwei elementare Vorbedingungen erfüllt sein:
Wenn wir beispielsweise im Supermarkt unentschlossen vor dem Süßigkeitenregal stehen und ein anderer Kunde vor unseren Augen die letzte Packung Gummibärchen kauft, dann wird dies bei uns Reaktanz auslösen, weil ein anderer Konsument unsere freie Auswahl behindert hat. Auf einmal erscheinen uns die Gummibärchen als ideale Süßigkeit, welche wir gerne selbst haben wollen würden, und wir ärgern uns, dass uns jemand anders diese weggeschnappt hat. Anders verhält es sich, wenn wir erfahren, dass die Immobilienpreise auf Sylt erneut stark gestiegen sind. Zwar stellt dies zunächst ebenfalls eine Freiheitsbeschränkung für einen Hauskauf auf Sylt dar. Wenn wir jedoch aus Kapitalgründen von vornherein nie geglaubt haben, uns ein Haus auf Sylt leisten zu können (Freiheitserwartung) oder wenn wir schlicht kein Interesse an einer Immobilie auf Sylt haben (Wichtigkeit der Freiheit), dann wird uns diese Freiheitsbeschränkung kalt lassen und keine Reaktanz auslösen.
Wie wichtig die Freiheitserwartung für die Ausbildung von Reaktanz ist, konnten 1975 die Forscher Stephen Worchel, Jerry Lee und Akanbi Adewole in einem aufsehenerregenden Experiment aufzeigen, bei dem es um die Beurteilung von Schokoladenkeksen ging. In der Studie sollten die Versuchsteilnehmer Schokoladenkekse beurteilen, bei denen es sich jedoch stets um die gleiche Marke und Sorte handelte. Während die Schokoladenkekse in einer Gruppe in großen Mengen vorhanden waren, gab es für die Versuchsteilnehmer der zweiten Gruppe nur zwei Kekse. Als dann etwas später die Kekse den Versuchsteilnehmern wieder weggenommen wurden, entwickelten nur die Versuchspersonen Reaktanz, welche am Anfang viele Kekse hatten. Der Grund hierfür liegt in der unterschiedlichen Freiheitserwartung der beiden Gruppen. Während die Versuchsteilnehmer der ersten Gruppe durch die große Menge an Keksen eine hohe Erwartung hatten, über diese frei verfügen zu können, kamen die Versuchsteilnehmer mit den zwei Keksen nie auf den Gedanken, dass sie genauso gut auch mehr haben könnten. Als dann die Kekse weggenommen wurden, entwickelte sich die Reaktanz dementsprechend nur bei den Personen, die eine Freiheitserwartung hatten, infolgedessen die Kekse aufgewertet und nun deutlich besser bewertet wurden. Interessanterweise konnten die Forscher diesen Effekt auch umkehren. Wenn die Keksanzahl nach kurzer Zeit von zwei auf zehn Stück aufgestockt wurde, wurden diese im Anschluss von Versuchsteilnehmern schlechter bewertet.
Doch auch wenn diese Erkenntnisse bemerkenswert sind, es waren nicht die, die für Aufsehen gesorgt haben. Das Besondere an der Studie war nämlich, wie es die Forscher schafften, die Reaktanz der Versuchspersonen zu verstärken und damit Einfluss auf die Beurteilung der Kekse zu nehmen. Wurde den Versuchsteilnehmern eine große Schale mit Keksen hingestellt, die ein wenig später wieder mit der Begründung weggenommen wurde, dass dies ein Irrtum sei, da nur jeder zwei Schokoladenkekse bekommen soll, waren die Reaktanzeffekte nur mäßig stark ausgeprägt. Wenn die Forscher jedoch die Keksschale mit der Begründung wegnahmen, dass aus dieser Schale auch andere Personen bedient werden müssten, waren die Reaktanzeffekte besonders stark. Die Forscher konnten damit nachweisen, dass unsere Reaktanz besonders dann stark ist, wenn wir erfahren, dass auch andere Menschen Anspruch auf das entsprechende Gut haben.
Gehen wir noch einmal zurück in den Supermarkt, bei dem uns die letzte Packung Gummibärchen vor den Augen weggeschnappt wurde. Hier standen wir unentschlossen vor dem Süßigkeitenregal, und unsere Reaktanz entwickelte sich erst, als jemand Fremdes vor unseren Augen sich die letzte Packung Gummibärchen griff. Doch hätte es für unsere Reaktanz einen Unterschied gemacht, wenn wir zielgerichtet eine Packung Gummibärchen hätten kaufen wollen und ein leeres Regal vorgefunden hätten? Genau dieser Frage sind die Forscher Gavan J. Fitzsimons und Patti Williams nachgegangen, die dabei Erkenntnisse gewinnen konnten, die für das Geschäftsleben erhebliche Auswirkungen besitzen. Wie von der Reaktanztheorie vorhergesagt, entwickelten Kunden, die bei ihrem wöchentlichen Einkauf im Supermarkt ein Produkt oder eine Marke nicht finden konnten, Reaktanz. Allerdings zeigte sich, dass dies nicht nur zur Verärgerung auf den Supermarkt führte. Fehlte beim Einkaufen zum ersten Mal eine bevorzugte Marke, wechselten daraufhin beim nächsten Einkauf 53 Prozent der Kunden das Geschäft. Fehlte dagegen ein weniger präferiertes Produkt, wählten immerhin 24 Prozent beim nächsten Einkauf ein anderes Geschäft. Interessanterweise zeigte die Studie aber auch, dass wenn die Kunden es gewohnt waren, dass ein Produkt immer wieder nicht verfügbar ist, ein Wechsel des Geschäfts kaum stattfindet.
Eine ähnliche Wirkung wie knappe oder nicht verfügbare Güter haben auch Verbote. Die Zarin Katharina die Große nutze die Wirkung von Reaktanz, um die Kartoffeln im russischen Speiseplan populär zu machen. Hierzu baute sie um ihre Äcker durchlässige Zäune, bei denen große Schilder unter Androhung einer Strafe verboten, die Kartoffeln zu stehlen. Binnen kürzester Zeit zeigte das Verbot seine angedachte Wirkung. Durch die zahlreichen Löcher schlichen nachts die Bauern auf die Äcker, stahlen karrenweise die dortigen Kartoffelpflanzen und begangen die Kartoffel selbst anzubauen. Einer Legende nach soll Friedrich II. von Preußen von diesem Erfolg so beeindruckt gewesen sein, dass auch er seine Kartoffelfelder umzäunt habe und mit Soldaten bewachen ließ, um seinem Volk die Kartoffel schmackhaft zu machen.
Knapp 200 Jahre später zeigen zwei Beispiele, dass sich an der Wirkung von Verboten nichts geändert hat, dies jedoch auch zu unbeabsichtigten Folgen führen kann. Als beispielsweise in der US-Gemeinde Kennesaw (Georgia) am 1. Juni 1982 ein Gesetz in Kraft trat, das alle Bürger zum Tragen einer Waffe verpflichtete, trauten die Stadtväter ihren Augen nicht. In der sonst sehr waffenaffinen Gemeinde brachen daraufhin nicht nur die Waffenverkäufe ein, sondern plötzlich begangen sich die Bürger gegen Waffenbesitz zu engagieren. Im Landkreis Dade Country (Florida) konnte ein ähnliches Phänomen beobachtet werden, welches jedoch durch das Verbot von phosphathaltigem Waschmittel ausgelöst wurde. Auf einmal begangen die Bewohner ein reges Interesse an phosphathaltigem Waschmittel auszubilden und dieses nachts über Straßen und Flüsse aus den Nachbarkreisen zu schmuggeln. Das Phänomen, dass das Gegenteil vom dem erreicht wird, was erreicht werden soll, nennt man auch Bumerangeffekt. Dieser tritt nicht nur bei Verboten auf, sondern auch dann, wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie manipuliert oder beeinflusst werden (sollen). Je plumper und eigennütziger dabei ein Beeinflussungsversuch ist, desto eher führt dies dazu, dass eine Person genau das Gegenteil macht, wozu sie gebracht werden soll. Ein anschauliches Alltagsbeispiel hierfür sind aufdringliche Verkäufer, die uns das Gefühl vermitteln, dass wir unbedingt etwas kaufen sollen. Dieses Gefühl führt jedoch zu Reaktanz und einem Bumerangeffekt, durch welches wir lieber nichts kaufen, als uns möglicherweise durch den Verkäufer manipulieren zu lassen.
Wie stark sich solch ein Gefühl auf den Erfolg eines Beeinflussungsversuches auswirkt, konnten zwei Studien zeigen. In einer Studie wurden Kunden eines Supermarkts ein Geldbetrag gegeben, um sich davon eine bestimmte Brotmarke zu kaufen. Wurde hierbei ein mäßiger Einfluss auf die Kunden ausgeübt, indem gesagt wurde, „Bitte kaufen Sie Brotmarke XY“, kauften im Anschluss knapp 70 Prozent der Kunden die entsprechende Brotmarke. Wurde dagegen ein starker Druck ausgeübt („Sie werden Brotmarke XY kaufen!“), landete bei nur noch 51 Prozent der Kunden die entsprechende Brotmarke im Einkaufswagen.
In einer anderen Studie wurden dagegen Studenten gebeten, für ein Fotoshooting Sonnenbrillen auszuprobieren, die sie im Anschluss auch erwerben konnten. In einer Versuchsbedingung erwähnte die Versuchsleiterin, dass sie für den Verkauf der Sonnenbrillen eine Provision erhalte und deswegen ein gewisses Interesse besitzt, möglichst viele davon zu verkaufen. In der anderen Versuchsbeindung tat die Versuchsleiterin dagegen so, als ob es ihr egal sei, ob die Brillen gekauft würden oder nicht. Als die Studenten schließlich die Sonnenbrillen anprobierten und die Versuchsleiterin die üblichen Verkäufersprüche brachte (z. B. „Die ist wie für Sie gemacht!“ oder „Die Brille steht Ihnen ganz großartig!“), zeigte sich, dass die Studenten aus der Provisionsbedingung dahinter einen Manipulationsversuch vermuteten, durch den sie zu einem Kauf überredet werden sollten. Im Ergebnis wurden in dieser Gruppe deutlich weniger Sonnenbrillen verkauft als bei der Gruppe der Studenten, die glaubten, dass es der Versuchsleiterin egal sei, ob sie die Brillen kaufen würden.
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Patrick Michalowski berät kleinere und mittelständische Unternehmen bei der psychologischen Optimierung ihrer Marketingaktivitäten. Er hat erfolgreich mehrere Studiengänge im Bereich Wirtschaft, Medien und Psychologie absolviert und ist darüber hinaus zertifizierter Referent für psychologische Kommunikationsprozesse (PFH)
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