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Kapitel 32

Der Identifiable victim effect

Der Identifiable victim effect (dt.: Effekt des identifizierbaren Opfers) beschreibt die menschliche Tendenz, dass uns das Schicksal einzelner Personen erheblich stärker berührt als das (vergleichbare) Schicksal einer Gruppe von Personen. In der Folge ist die Hilfsbereitschaft gegenüber Einzelpersonen deutlich stärker ausgeprägt als bei einer Gruppe von Menschen (auch wenn die Hilfsbedürftigkeit bei der Gruppe viel größer ist). Der sowjetische Diktator Joseph Stalin beschrieb dieses Phänomen einmal mit: „Ein einziger Tod ist eine Tragödie, eine Million Tote sind Statistik“, während Mutter Teresa einmal meinte: „Bei Blick auf die Menschenmasse würde ich nie handeln“.

Aus rationaler Sicht ergibt es keinen Sinn, einem einzelnen Opfer mehr zu helfen als einer Gruppe von Opfern. Denn objektiv betrachtet, ist das Leid mehrerer Menschen zusammen größer als das einer Einzelperson. Paradoxerweise nimmt unsere emotionale Anteilnahme jedoch mit steigender Opferzahl ab, wobei unsere Hilfsbereitschaft bereits ab zwei Opfern stark nachlässt. Dies hat zur Folge, dass einzelne Opfern unverhältnismäßig viel Hilfe erhalten, während eine Gruppe von Opfern (pro Person) nur wenig Hilfe erhält. So erzielte beispielsweise 2012 ein Spendenaufruf für eine Urlaubsreise für eine ältere Schulbusfahrerin aus New York, die durch vier Schüler gemobbt wurde, binnen 48 Stunden mehr als 700.000 $. In diesem Kontrast steht die Summe der jährlichen US-Spenden von rund 550 Mio. $ für die Brustkrebsforschung, die verglichen mit den 0,7 Mio. $ der Busfahrerin, auf den ersten Blick sehr groß wirkt. Allerdings erkranken allein in den USA jedes Jahr mehr als 300.000 Frauen an Brustkrebs, wovon jährlich 40.000 sterben. Dividiert man die Spendensumme durch die Anzahl jährlich neuer Brustkrebspatientinnen, beträgt das Spendenaufkommen nur noch weniger als 1.900 $ pro Patientin. Damit erhielt die Urlaubsreise der Busfahrerin mehr als 369-mal so viel Spenden als einer Brustkrebspatientin zur Verfügung steht. Dieser Umstand spiegelt sich auch regelmäßig bei Schadenersatzklagen wider, bei denen Einzelpersonen im Durchschnitt höhere Summen zugesprochen werden als Mitgliedern einer Gruppe.

Eine Ursache für Identifiable victim effect liegt in unseren Emotionen begründet. Mit einzelnen Personen können wir uns deutlich besser identifizieren und uns in sie besser reinversetzen als mit einer Gruppe von Menschen. Gleichzeitig lösen Statistiken nicht die gleiche Empathie- und Emotionslage aus wie eine Geschichte eines Individuums. Neurowissenschaftliche Studien zeigen hierbei, dass Zahlen und Statistiken ein anderes Gehirnareal aktivieren als Bilder von hilfsbedürftigen Menschen. Im letzteren Fall wird der Teil des Gehirns aktiv, der für Emotionen und Empathie verantwortlich ist. Darüber hinaus legen neuere Erkenntnisse die Schlussfolgerung nahe, dass der Identifiable victim effect als Schutzmechanismus eingesetzt wird, mit der wir uns vor zu starker negativer emotionaler Überwältigung zu schützen versuchen. In diesem Kontext konnte eine Studie zur Hilfsbereitschaft bei schwerkranken Kindern aufzeigen, dass sowohl bei einem einzelnen Kind als auch bei einer Gruppe von Kindern ein ähnlich hohes Maß an Empathie hervorgefunden wird, es jedoch bei einzelnen Opfern zu stärkerem emotionalem Stress kommt, welcher wiederum zu einer höheren Hilfsbereitschaft führt.

Allerdings konnte die Forschung zum Identifiable victim effect auch die Grenzen des Effekts aufzeigen. Ist eine Einzelperson zumindest teilweise für ihre Notlage bzw. ihren Schicksalsschlag verantwortlich, ist es auch weniger wahrscheinlich, dass diese Hilfe erhält. Je nach Grad der eigenen Verantwortung kann dies so weit gehen, dass gar kein Mitgefühl mehr hervorgerufen wird und es zu einer negativen Wahrnehmung des Opfers kommt. Darüber hinaus konnten Studien belegen, dass der Identifiable victim effect auch in die andere Richtung funktioniert. Wir verspüren nicht nur bei einzelnen Opfern eine stärkere Hilfsbereitschaft, sondern sind auch bei Tätern dazu geneigt, einzelne Täter verstärkt und strenger zu bestrafen als bei einer Gruppe von Tätern.

Eine Studie von Daryl Cameron und Brain Payne aus dem Jahr 2011 zeigte, wie man einen identifizierbaren Opfer-Effekt verringern und vermeiden kann. Wenn man eine unverhältnismäßig hohe Empathie bei einem Einzelschicksal verringern möchte, muss man Personen auffordern, eine distanzierte und emotionslose Haltung zum Sachverhalt einnehmen. Möchte man dagegen erreichen, dass auch bei Gruppenschicksalen große Empathie- und Emotionsniveaus erreicht werden, muss man eine Person auffordern und ermutigen, Emotionen zuzulassen und diese zu spüren. Damit liefert die Studie einen weiteren Beweis dafür, dass es sich bei dem Identifiable victim effect um einen Schutzmechanismus handelt, mit der wir uns schützen wollen.

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Tipps für die Praxis

  • Das Schicksal von Einzelpersonen berührt Menschen deutlich stärker als das Schicksal einer Gruppe von Personen.
  • Wenn Sie mit Testimonials, Referenzen oder Empfehlungen werben, dann lassen sich Menschen von einer Geschichte einer Person stärker beeinflussen als a) von einer Geschichte mit mehreren Personen oder b) von abstrakten und anonymen Statistiken.
  • Wenn Sie erreichen möchten, dass der Entscheidungsprozess Ihrer Zielgruppe durch das intuitive System 1 dominiert wird, dann achten Sie darauf, dass Ihre Geschichten starke Emotionen wecken. Dies erreichen Sie, indem Sie eine narrative Erzählform nutzen und dabei Bilder und/oder Videos verwenden.

Exkurs zum Bystander-Effekt

Der Effekt des Identifiable victim effect darf nicht mit dem Bystander-Effekt verwechselt werden. Beim Bystander-Effekt (dt.: Zuschauereffekt) handelt es sich um ein Phänomen, bei der Augenzeugen eines Unfalls oder eines kriminellen Übergriffs mit umso geringerer Wahrscheinlichkeit Hilfe leisten oder eingreifen, je mehr andere Augenzeugen anwesend sind. Anders als beim Effekt des identifizierbaren Opfers, resultiert die geringere Hilfsbereitschaft gegenüber einem Opfer aus situativen Umständen. Neben der Befürchtung des Einzelnen, sich mit der Hilfeleistung zu blamieren, kann eine große Anzahl von Augenzeugen dazu führen, dass der Einzelne die Situation nicht als Notfall wahrnimmt. Denn oft ist eine Notlage nicht eindeutig als solche zu erkennen. Liegt beispielsweise ein Mann in der Ecke einer Straße, kann es sein, dass dieser einen Herzinfarkt hatte oder betrunken seinen Rauch ausschläft. Diese Ungewissheit führt dazu, dass man sich bei der Einschätzung der Situation an seinen Mitmenschen orientiert. Allerdings besteht hierbei die Problematik, dass auch die anderen Augenzeugen sich an ihren Mitmenschen orientieren. Je mehr Augenzeugen dabei anwesend sind, desto mehr führt dies zur Interpretation bei den Personen, dass es sich in der vorliegenden Situation um keinen Notfall handelt, da ja niemand eingreift (pluralistische Ignoranz). Erschwerend kommt hinzu, dass bei steigender Anzahl von Augenzeugen auch die Verantwortung des Einzelnen nachlässt, sodass gewartet wird, dass andere Personen eingreifen (Verantwortungsdiffusion).
 

Tipp: Den Bystander-Effekt können Sie vermeiden, indem Sie den anwesenden Augenzeugen konkrete Anweisungen geben, was diese machen sollen (z. B. Erste-Hilfe leisten oder die Polizei rufen). Sollten Sie selbst mal in eine Notlage an einem öffentlichen Platz mit vielen Menschen geraten, bringen Sie Ihre Hilfsbedürftigkeit unmissverständlich zum Ausdruck und picken Sie eine Person heraus, die Sie konkret um Hilfe zu bitten, anstatt allgemein nur nach Hilfe zu rufen.

Autor

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Patrick Michalowski

Patrick Michalowski berät kleinere und mittelständische Unternehmen bei der psychologischen Optimierung ihrer Marketingaktivitäten. Er hat erfolgreich mehrere Studiengänge im Bereich Wirtschaft, Medien und Psychologie absolviert und ist darüber hinaus zertifizierter Referent für psychologische Kommunikationsprozesse (PFH)

Quellen

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