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Kapitel 21

Das Prinzip der Reziprozität

Mit dem Prinzip der Reziprozität (auch als Regel der Gegenseitigkeit bekannt) wird die Verpflichtung zur Gegenseitigkeit im sozialen Austausch bezeichnet. Es ist in allen Kulturen und Gesellschaften verbreitet und sorgt als stark verinnerlichte soziale Norm dafür, dass wenn wir etwas von anderen Menschen erhalten haben, wir motiviert sind, eine Gegenleistung in vergleichbarer Form zu erbringen. Im sozialen Umgang verhalten wir uns deswegen gegenüber Personen, von denen wir etwas Positives erhalten haben, deutlich freundlicher und kooperativer, während wir bei negativen Handlungen deutlich feindseliger und unkooperativer (teilweise sogar brutal und rachsüchtig) auftreten. Umgangssprachlich wird das Prinzip der Reziprozität deswegen im positiven Kontext auch als „Geben und Nehmen“ und im negativen Kontext als „Wie du mir, so ich dir!“ umschrieben.

Wenn es um die Einflussnahme auf menschliche Entscheidungen geht, dann ist mit dem Prinzip der Reziprozität der positive Kontext gemeint („Geben und Nehmen)“, bei dem wir auf einen Gefallen mit einer Gegenleistung reagieren, mit welcher versucht wird, den erhaltenen Gefallen wieder auszugleichen. Während Psychologen und Sozialwissenschaftler diesen Mechanismus vordergründig mit dem unangenehmen Gefühl, Schulden bei einem anderen Menschen zu haben, erklären, sehen Kulturanthropologen dagegen darin die Grundlage für ein kooperatives Miteinander. Es sorgt nämlich im menschlichen Miteinander für ein ausgeglichenes Verhältnis von Geben und Nehmen, weshalb wir bereits von Kindesbeinen darauf sozialisiert werden, uns unwohl zu fühlen, wenn wir jemandem etwas schuldig bleiben. In einer mehrjährigen kulturübergreifenden Studie konnte diesbezüglich nachgewiesen werden, dass wir sehr auf ein reziprokes Verhalten unserer Mitmenschen achten und auf ein davon abweichendes (egoistisches) Verhalten mit Ächtung und Bestrafung reagieren.

 

Das ungeschriebene Gesetz der Reziprozität zeigte sich beispielsweise im Jahr 2007, als der Hurrikan Katrina weite Teile von New Orleans überschwemmte. Während die damalige US-Regierung mit dem Krisenmanagement komplett überfordert war, traf in der verwüsteten Region unerwartet großzügige Hilfe aus den Niederlanden ein. Der Grund für diese außerordentliche Hilfeleistung: Als 1953 nach einer großen Sturmflut weite Teile der Niederlande unter Wasser gestanden und dabei mehr als 2.000 Menschen ihr Leben verloren hatten, gewährte die Stadt New Orleans umgehend technische Hilfe, wofür sich die Niederlande 2007 revanchierte.

Dass das Prinzip der Reziprozität auch über mehrere Generationen funktioniert, zeigte sich 2021 während der Corona-Pandemie. Als die amerikanischen Ureinwohner vom Volk der Choctaw vom Coronavirus schwer getroffen waren und sich ihre Lage durch extreme Wasserknappheit verschlimmerte, starteten sie in ihrer Not eine Online-Spendenkampagne. Binnen kürzester Zeit kam dabei eine Millionensumme zusammen, die vorwiegend von irischen Menschen gespendet wurde. Doch warum spendeten gerade die Iren? Der Grund dafür liegt mehr als 173 Jahre zurück, als während der großen irischen Hungernot zwischen 1845 und 1849 mehr als eine Million Iren starben. Obwohl das Volk der Choctaw damals selbst stark litt, weil sie gerade aus ihrem angestammten Land in Mississippi nach Oklahoma vertrieben wurden, sammelten die Ureinwohner in ihren Familien Spenden und gaben sie den Iren. Als dann 2021 die Iren von der Not der Choctaw erfuhren, waren viele Iren gerne bereit, diesmal die Choctaw zu unterstützen.

Das man Reziprozität auch zur Manipulation nutzen kann, zeigte der Psychologie Dennis Regan 1971 in einem mittlerweile berühmten Experiment. Unter dem Vorwand einer Untersuchung zum Thema Kunstverständnis sollten die Versuchsteilnehmer zusammen mit einer zweiten Person die Qualität von Bildern einschätzen. Was die Versuchsteilnehmer jedoch nicht wussten, war, dass es sich bei der zweiten Person („Joe“) in Wirklichkeit um den Assistenten von Regan handelte. In einer Versuchsanordnung tat Joe den Versuchsteilnehmern unaufgefordert einen kleinen Gefallen, indem er ihnen in der Pause eine Flasche Coca-Cola mitbrachte. In der anderen Versuchsanordnung kam Joe dagegen mit leeren Händen zurück. In beiden Anordnungen war das sonstige Verhalten von Joe gegenüber den Versuchspersonen identisch. Als schließlich die Qualität der Bilder eingeschätzt werden sollte, bat Joe die Versuchsteilnehmer um einen kleinen Gefallen. Er verkaufte Lose für 25 Cent, mit denen man ein Auto gewinnen könne, und wenn er besonders viele Lose verkauft, bekäme er eine Prämie von 50 Dollar. Dabei zeigte sich, dass Personen, die von Joe unaufgefordert eine Cola erhielten, mehr als doppelt so viele Lose von ihm kauften als Personen, die keine Cola erhalten hatten.

Die Untersuchung von Regan ist ein schönes Beispiel dafür, dass psychologische Experimente nicht immer kompliziert aufgebaut sein müssen, um wichtige Erkenntnisse gewinnen zu können. Auf relativ simple Weise konnte Regan mit seinem Experiment drei wichtige Eigenschaften aufzeigen, die mit dem Prinzip der Reziprozität verbunden sind:

 
  • Reziprozität wirkt auch bei Personen, welche gar nicht um einen Gefallen gebeten haben bzw. denen ungebeten ein Gefallen erwiesen wurde.
  • Ob wir jemanden sympathisch finden, spielt für die Wirksamkeit von Reziprozität keine Rolle. Im Experiment zeigte sich, dass Versuchspersonen, die von Joe ungebeten eine Cola erhalten hatten, ihm die Lose unabhängig davon abkauften, ob sie ihn mochten oder nicht. Dagegen war der Loskauf bei den Versuchspersonen, die von Joe keine Cola erhalten hatten, stark sympathieabhängig.
  • Bei der Erwiderung von erhaltenen Gefallen besteht die starke Neigung zur Überkompensation. Während eine Cola im Jahr 1971 nur 10 Cent kostete, kauften dagegen die Versuchsteilnehmer Lose für durchschnittlich 1,75 Dollar, was einer beachtlichen Überkompensation von 1.650 Prozent entspricht.
 

Eine ähnliche Studie aus dem Jahr 2009 konnte darüber hinaus aufzeigen, dass das Prinzip der Reziprozität auch dann funktioniert, wenn die andere Person nicht merkt, dass ein Gefallen erwidert wird. Hierzu wurden die Versuchsteilnehmer gebeten, einen Fragebogen mit nach Hause zu nehmen und diesen anonym zu bearbeiten, den sie, falls sie daran nicht interessiert seien, auch ausdrücklich wegwerfen durften. Obwohl die Versuchsteilnehmer wussten, dass niemand erfahren würde, ob sie den Fragebogen zurückschickten oder nicht, zeigte sich, dass die Probanden, die ein Getränk in Form eines ungebetenen Gefallens erhalten halten, zu 28,3 Prozent die Fragebögen wieder zurückschickten. Dagegen schickten nur knapp 5 Prozent der Menschen, denen kein Gefallen erwiesen worden war, ihre Bögen wieder zurück.

Wenig verwunderlich wird die Tatsache, dass ungebetene Geschenke Verpflichtungsgefühle auslösen können, im Alltag an vielen Stellen geschickt ausgenutzt. So wissen viele Verkäufer zu berichten, dass Kunden nach Annahme eins kleinen Geschenks häufig bereit sind, Produkte oder Dienstleistungen zu kaufen, für die sie andernfalls nicht zu erwärmen wären. Aus dem gleichen Grund werden in Supermärkten regelmäßig Gratisproben angeboten, bei denen viele Kunden nach einer Kostprobe ein schlechtes Gewissen entwickeln und das angebotene Produkt in den Einkaufswagen legen. Ein britischer Mann schaffte es auf diese Weise binnen weniger Stunden beeindruckende 450 Kilogramm Käse zu verkaufen, schlicht indem er den Käse auslegte und die Kunden aufforderte, sich selbst Gratiskostproben abzuschneiden.

Auch im nichtkommerziellen Bereich wird das Prinzip der Reziprozität rege genutzt. Beispielsweise kann die Organisation amerikanischer Kriegsversehrter berichten, dass auf einfache Briefspendenaktionen durchschnittlich nur etwa 18 Prozent der Angeschriebenen mit einer Spende reagieren. Wird jedoch ein ungebetenes Geschenk mitgeschickt (z. B. individuelle Adressaufkleber oder Grußkarten), verdoppelt sich die Spendenquote auf 35 Prozent. Besonders erfolgreich war in diesem Bereich die Hare-Krishna-Sekte, die in den 1970er Jahren dank des Prinzips der Reziprozität zu enormem Reichtum gelangte. Nachdem klassische Spendenaktionen sich bei der unbeliebten Sekte als wenig erfolgreich herausgestellt hatten, gingen die Krishnas zu einer Taktik über, bei der das Ansehen der Sekte für die Spendenbereitschaft keine Rolle spiele. Hierzu gingen die Spendensammler an Orten mit hohem Fußgängeraufkommen auf wildfremde Passanten zu und schenkten ihnen Blumen, die unter keinen Umständen wieder zurückgegeben werden durften. Hielten die Beschenkten das Geschenk in Händen, wurden die Passanten anschließend gefragt, ob sie nicht mit einem kleinen Beitrag die Hare-Krishna-Gemeinschaft unterstützen könnten. Die meisten Beschenkten erklärten sich daraufhin bereit, sich für das ungebetene Geschenk in Form einer Spende zu revanchieren. Der Spendenreichtum der Sekte versiegte erst, als sich die geschickte Manipulationstechnik über die Jahre tief ins Bewusstsein der Öffentlichkeit einbrannte und ein immer größerer Teil der Passanten schon beim Anblick der Sektenmitglieder einen großen Bogen machte.

Ein besonders negatives Beispiel für das Prinzip der Reziprozität konnte eine 2002 veröffentliche Studie im politischen Bereich aufzeigen, die aufdeckte, dass bei Spenden an Parteien und Politiker häufig die Absicht dahintersteht, dadurch persönliche Verpflichtungen entstehen zu lassen. Tatsächlich konnten die Forscher nachweisen, dass dieses Vorgehen sehr effektiv ist und dass US-Kongressabgeordnete siebenmal häufiger für die Interessen und Belange ihrer Spende stimmen als für andere Interessensgruppen.

Doch so beeindruckend die Wirkung der Reziprozitätsregel auch ist, sie gilt nicht uneingeschränkt. Die empfundene Verpflichtung, sich zu revanchieren, lässt bei kleinen Gefälligkeiten schnell mit der Zeit nach. Größere Geschenke oder Gefälligkeiten können dagegen eine lang anhaltende Verpflichtung zur Revanche nach sich ziehen.

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Tipps für die Praxis

  • Behalten Sie stets im Hinterkopf, dass Reziprozität seine Wirkung im positiven als auch im negativen Sinne entfalten kann („Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“).
  • Bedenken Sie bei der Reziprozität: Erst geben, dann nehmen. Sie verbessern Ihre Chancen, dass andere etwas tun, indem Sie mit einer Gefälligkeit in Vorleistung gehen.
  • Auf Ihrer Webseite können Sie Ihren Besuchern eine kleine kostenlose Überraschung anbieten, durch die Sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich potenzielle Kunden mit einem Kauf revanchieren. Dies können beispielsweise Gutscheine, Checklisten oder Ratgeber sein. 
  • Die Erinnerung an erhaltene Gefallen verblasst mit der Zeit. Wenn Sie jemandem einen Gefallen getan haben und nach einiger Zeit selbst um einen Gefallen bitten möchten, vermeiden Sie eine Wortwahl, die beim Gegenüber das Gefühl einer Verpflichtung hervorruft (wie „Ich habe dir damals geholfen, und heute ist Zahltag dafür!“). Leiten Sie Ihre Bitte besser mit einer sanften Erinnerung an Ihren vergangenen Gefallen ein („Ich hoffe, ich konnte dir damals mit XY helfen?).

Autor

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Patrick Michalowski

Patrick Michalowski berät kleinere und mittelständische Unternehmen bei der psychologischen Optimierung ihrer Marketingaktivitäten. Er hat erfolgreich mehrere Studiengänge im Bereich Wirtschaft, Medien und Psychologie absolviert und ist darüber hinaus zertifizierter Referent für psychologische Kommunikationsprozesse (PFH)

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