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Kapitel 20

Das Prinzip der Autorität

Zu den beeindruckendsten Experimenten der Sozialpsychologie gehört sicherlich das Milgram-Experiment von Stanley Milgram, welches im Jahr 1961 auf verstörende Weise verdeutlichte, welche Macht von einer Autorität ausgehen kann. Unter dem Vorwand, ob Lernerfolg mit Bestrafung gesteigert werden kann, ging Milgram bei seinem Experiment der eigentlichen Frage nach, wie sich Autoritäten auf das Verhalten von Menschen auswirken. Hierzu schlüpften die nichtsahnenden Versuchsteilnehmer in die Rolle eines Lehrers, welcher auf Anweisung des Versuchsleiters (als Autoritätsperson) einen Schüler mit Stromschlägen bestraften sollte, wenn dieser bei einem Lernversuch einen Fehler machte. Dabei wurde die Stromstärke mit jedem Fehler, den der Schüler machte, schrittweise auf ein mit 450 Volt tödliches Niveau erhöht. Was die Versuchsteilnehmer (Lehrer) zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht wussten, war, dass es sich beim bestraften Schüler in Wahrheit um einen Schauspieler handelte, bei dem die Reaktionen auf die vermeintlichen Stromschläge nur gespielt waren. Tatsächlich wurden im Experiment keine Stromschläge verteilt – zum Glück für den vermeintlichen Schüler. Denn anstatt den flehentlichen Bitten des Opfers nachzugeben, zeigte sich widererwartend, dass die meisten Versuchsteilnehmer den Anweisungen des Versuchsleiters bis zur maximalen Bestrafung von 450 Volt anstandslos folgten.

Welch skurrile Züge Autorität besitzen kann, zeigen auch immer wieder Berichte aus Krankenhäusern, bei denen Menschen den (vermeintlichen) Anweisungen von Ärzten blind folgen. So berichtet Robert B. Cialdini von einer Behandlung „rektaler Ohrenschmerzen“ in den USA, bei dem ein Arzt auf das Rezept für Ohrentropfen nicht „place in right ear“ sondern „place in r ear“ schrieb.

Die Krankenschwester las daraus „place in rear“ (Hinterteil) und verabreichte, ohne die Anweisung zu hinterfragen, die Ohrentropfen in den Hintern des Patienten (welcher den seltsamen Vorgang ebenfalls nicht infrage stellte). In einem anderen kuriosen Fall suchte ein Patient in Brasilien ebenfalls wegen Ohrenschmerzen ein Krankenhaus auf und wurde dort irrtümlich einer Vasektomie (Sterilisation) unterzogen. Bemerkenswerterweise stellte auch in diesem Fall der Patient sowohl bei der Vorbereitung als auch während der Operation keine einzige Frage und ließ die Behandlung klaglos über sich ergehen.

Doch nicht immer geht es für die Betroffenen so „glimpflich“ aus, wie bei den beiden Ohrenschmerzpatienten. Die Geschichte der Menschheit ist voller Ereignisse, bei denen Autoritätsgehorsamkeit direkt in die Katastrophe geführt hat und zahlreiche Menschenleben forderte. So hätte beispielsweise die verheerende Reaktorkatastrophe von Tschernobyl noch rechtzeitig verhindert werden können, wenn das verantwortliche Betriebspersonal sich den Anweisungen ihres Vorgesetzten widersetzt hätte. Eine später eingesetzte Untersuchungskommission konnte nämlich aufdecken, dass die im Kontrollraum anwesenden Ingenieure zwar lautstark eine Notabschaltung des Reaktors forderten, jedoch auf Anweisung ihres Vorgesetzten (trotz besseren Wissens) erst mal noch abwarteten. Als dann wenige Minuten später der Befehl für eine Notabschaltung gegeben wurde, war es dafür bereits zu spät.

Die Beispiele zeigen, dass sobald eine legitime Autorität etwas verfügt hat, viele Menschen das eigenständige Denken einstellen oder trotz besseren Wissens den Anweisungen folgen. Laut Milgram ist dies das Resultat einer tief verwurzelten Autoritätshörigkeit von Menschen, entstanden durch systematische Sozialisation. Denn für das menschliche Zusammenleben ist ein weithin akzeptiertes Autoritätssystem eine notwendige Voraussetzung. Würde ein akzeptiertes Autoritätssystem fehlen, wäre die Alternative im Extremfall Anarchie, ein Zustand, der früher oder später eine Gesellschaft zersetzen würde. Zudem haben wir die Erfahrung gemacht, dass es durchaus sinnvoll ist, auf Autoritäten und Experten zu hören, da diese über mehr Wissen, Erfahrung oder Macht verfügen. Deswegen hören Schüler (in der Regel) auf ihre Lehrer, Patienten auf ihre Ärzte, Mandanten auf ihre Anwälte und Studenten auf ihre Professoren. Autoritätshörigkeit kann im Alltag deswegen auch gedankenlos auftreten, um eine Entscheidungsfindung zu vereinfachen. Doch woran erkennen wir, ob es sich bei einer Person um eine Autorität handelt oder nicht?

Da wir selten die Zeit, Möglichkeit und Fähigkeit besitzen, die Kompetenz, Leistung und die Referenzen einer Person umfassend zu überprüfen und zu beurteilen, verlassen wir und vordergründig auf Symbole, die wir mit Autorität verbinden. Typische Symbole sind hierbei Titel, Kleidung, Expertenstatus oder sozialer Status. Im Falle des Milgram-Experiments zeigte sich, dass der Versuchsleiter von den Versuchspersonen insbesondere durch seinen Titel als Professor und seinen weißen Kittel als Autorität angesehen wurde. Wenn im Experiment dagegen der Versuchsleiter als studentische Hilfskraft vorgestellt wurde, war bei den Versuchspersonen die Bereitschaft zum Gehorsam deutlich weniger ausgeprägt.

Andere Untersuchungen zur Wirkung von Autoritätskleidung konnten Milgrams Ergebnisse bestätigen. Bittet man beispielsweise Passanten, eine Tüte vom Bürgersteig aufzuheben oder sich auf die andere Seite einer Bushaltestelle zu stellen, dann folgen der Bitte deutlich mehr Menschen, wenn diese durch eine uniformierte Person hervorgebracht wird, als wenn die Person normale Straßenkleidung trägt. Allerdings bedeutet dies nicht, dass man unbedingt eine Uniform tragen muss, um als Autoritätsperson wahrgenommen zu werden. In einer texanischen Studie ließen die Forscher einen 31-jährigen Mann bei einer roten Ampel über eine Straße gehen. Wenn der Mann dabei einen Anzug mit Krawatte trug, folgten ihm dreieinhalb Mal so viele Menschen, als wenn er nur ein Hemd mit einer einfachen Hose trug. In einer anderen Studie zeigte sich dagegen, dass Autofahrer, die an einer grünen Ampel hinter einem stehenden Fahrzeug standen, deutlich später zu hupen anfingen oder sogar ganz darauf verzichteten, wenn es sich beim vorderen Fahrzeug um ein teures und großes Fabrikat handelte, als wenn sie hinter einem älteren und kleineren Auto standen.

Beim Thema von akademischen Titeln zeigt die Forschung zwei interessante Befunde: Zum einen werden Personen mit Doktortitel oder Professorentitel automatisch als glaubwürdiger eingestuft. Zum anderen wirken sich Titel auf die Wahrnehmung der Körpergröße aus. So werden beispielsweise Personen mit hoch angesehenen Titeln wie „Professor“ oder „Doktor“ durchschnittlich 6,5 Zentimeter größer geschätzt als Personen, die keinen Titel haben. Hochstapler tragen aus diesem Grund gerne Schuhe mit Spezialeinlagen, um größer zu erschienen und auf diese Weise mit angesehenen Titeln in Verbindung gebracht zu werden. Ein gutes Beispiel, wo dieser Umstand in der Werbung angewendet wird, ist die Zahnbürstenmarke „Dr. Best“. Meistens handelt es sich hierbei um einen körperlich großen „Doktor“, welcher stets im weißen Kittel die Vorzüge dieser Zahnbürste preist. Allerdings lass sich auch in anderen Fernsehspots oder Werbeanzeigen regelmäßig (vermeintliche) Ärzte und Apotheker finden, die für bestimmte Produkte werben oder diese empfehlen („von Zahnärzten empfohlen“).

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Exkurs zum Milgram-Experiment

Stanley Milgram wurde 1964 für sein berühmtes Experiment von der American Association for the Advancement of Science ausgezeichnet. Dennoch ist das Milgram-Experiment in der psychologischen Fachwelt nicht unumstritten. Neben methodischer Kritik am Versuchsaufbau, wurde insbesondere der ethisch-moralische Aspekt kritisiert, dass Versuchsteilnehmer einer traumatischen Situation ausgesetzt waren, anderen Menschen schmerzen zuzufügen. Trotz berechtigter Kritik stellt das Experiment einen Meilenstein im Verständnis des menschlichen Autoritätsgehorsams dar. Die Ergebnisse des Milgram-Experiments konnten in zahlreichen anderen Studien in unterschiedlichen Ländern bestätigt werden. Ursprünglich wollte Milgram mit seinem Experiment herausfinden, ob die Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus mit einem besonders obrigkeitshörigen deutschen Charakter zusammenhängen („Germans-are-different“-These). Stattdessen konnte Milgram aufzeigen, dass fast jeder Mensch unter bestimmten Bedingungen bereit ist, einer (vermeintlichen) Autorität und nicht seinem Gewissen zu folgen. Dank der Erkenntnisse aus dem Milgram-Experiment kann heute unter anderem erklärt werden, warum Menschen foltern oder Kriegsverbrechen begehen.

Autor

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Patrick Michalowski

Patrick Michalowski berät kleinere und mittelständische Unternehmen bei der psychologischen Optimierung ihrer Marketingaktivitäten. Er hat erfolgreich mehrere Studiengänge im Bereich Wirtschaft, Medien und Psychologie absolviert und ist darüber hinaus zertifizierter Referent für psychologische Kommunikationsprozesse (PFH)

Quellen

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